Harald Werner - Alles was links ist
 

Große Hoffnungen und schnelle Schritte

Zwischen dem Herbst 1989 und dem Anschluss der ehemaligen DDR an die Bundesrepublik fanden radikale Brüche und Umbrüche statt, wie sie in der deutschen Geschichte noch nie stattfanden. Bis heute wird dabei der Eindruck erweckt, als habe es sich um einen kontinuierlichen und letztlich erfolgreichen Prozess gehandelt. Doch wenn auch die nachwirkenden Probleme des Systemwechsels nicht verschwiegen werden, so schweigt man doch bis heute über die Wende in der Wende. Aus der faszinierenden Utopie wurde in kurzer Zeit eine ernüchternde Dystopie. Die Utopie hatte einen realen Hintergrund, nämlich die von Gorbatschow eingeleitete Perestroika und die seine Glasnost-Strategie. Den ersten realen Anlass, eine grundlegende politische Wende für möglich zu halten, schufen die letzten DDR-Kommunalwahlen, bei denen die oppositionelle Szene flächendeckend die Stimmabgabe beobachtete und letztlich beweisen konnte, dass das offizielle Wahlergebnis gefälscht war. Es folgten die ersten großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin, sowie die von Kohl mit der ungarischen Regierung ausgehandelte Massenflucht und schließlich der Rücktritt Honeckers.

 

Von dem Moment an öffnete sich ein Zeitfenster, das den revolutionären Prozess unumkehrbar machte. Die Mauer fiel, die Opposition legte ein Zehn-Punkte-Programm für eine Reform des Sozialismus vor und am „Runden Tisch“ versuchte man die Zukunft neu zu denken. Nachgedacht hatte man zur gleichen jedoch auch in Bonn, wo Kohl erst für die DDR Reformen forderte und blitzschnell zur Forderung nach der deutschen Einheit überging. Wahrscheinlich nicht ohne bundesdeutsche Unterstützung, skandierte man auf den Leipziger Montagsdemos nicht mehr „wir sind das Volk“, sondern „wir sind ein Volk“. Bis heute darf man sich darüber wundern, wie schnell diese Demos nicht nur zu einer ungeheuren Menge schwarz-rot-goldener Fahnen kamen, sondern diese auch an Bambusstöcken flatterten, die in der DDR bislang nur schwer zu haben waren. Nach dem Kohl dann Dresden besuchte und triumphalen Beifall bekam, ließ er erstmals die Katze aus dem Sack: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit der Nation wollen.“

 

Wie der Sozialismus entsorgt wurde

Der Wunsch nach Einheit schloss zu dieser Zeit noch keinen Systemwechsel ein, was Kohl durchaus wusste und deshalb noch im Februar 1990 im ZDF erklärte: “Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht (…) Wir werden eine neue Verfassung zu schaffen haben.“ Das war zwar ein klares Bekenntnis zum Artikel 146 des Grundgesetzes, wurde aber bald schon durch die Forderung nach Beitritt auf Basis des Artikel 23 revidiert.[1]

Fast alle politischen Kräfte der späten DDR bekannten anfangs sich zum Sozialismus, auch wenn seine konkrete Gestalt sehr unterschiedlich interpretiert wurde. Der damalige Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar de Maizière erklärte noch zwei Wochen nach dem Fall der Mauer: „Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens…Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“[2] Dass die von der SED zur PDS gewandelte Partei nicht von den neuen sozialistischen Perspektiven profitieren konnte, lag vor allem daran, dass sie nach wie vor mit der Stasi und den alten, allseits bekannten Kadern identifiziert wurde. Zwar wurden sämtliche ehemaligen Mitglieder des ZK ausgeschlossen und der Umbenennung folgte auch eine radikale Abrechnung mit dem Stalinismus, doch die meisten prominenten Bürgerrechtler distanzierten sich von der SED/PDS und die große Zahl der ehemals in der SED und dem FdGB organisierten Kader beschäftigten sich mehr mit der Abwicklung der SED-Strukturen und den massenhaften Entlassungen, als mit Programmdiskussionen. Die ersten freien Wahlen zur Volkskammer wurden für die neue Partei ein Desaster. Die PDS kam auf nur 16,39 Prozent der Stimmen, die SPD auf 21,88 und die CDU auf 40,81. Selbst zusammen mit den anderen, ausdrücklich am Sozialismus orientierten Parteien und Bündnissen, hätte es in der Volkskammer keine sozialistische Mehrheit gegeben.         

Die wahrscheinlich größte Enttäuschung für die Linkskräfte aber war die Deutschlandpolitik Gorbatschows. Als er im Februar 1990 Kohl die Zustimmung zur Wiedervereinigung gab, war nicht nur die größte Hürde für den Anschluss genommen, sondern es lagen so ziemlich alle Möglichkeiten zur neuen Spaltung Europas auf dem Tisch. Als Kohl im Juli Gorbatschow traf und beide in Streckjacke über die deutsche Wiedervereinigung berieten, wurde nicht nur die Eingliederung Ostdeutschlands in die Nato akzeptiert, sondern auch nicht deren Ausdehnung bis an die Grenzen der damaligen Sowjetunion ausgeschlossen. Alle Übereinkünfte geschahen mündlich, und bis heute streiten sich die Historiker darüber, ob es wirklich eine Absprache über die Ostgrenze der Nato gab. Tatsächlich aber hatten bereits im Mai die „Zwei-plus-Vier-Gespräche“ die Details des Anschlusses diskutiert, so dass der Wirtschafts- und Währungsunion nichts mehr im Wege stand. Im August 1990, also nur elf Monate nach der Maueröffnung, beschloss die Volkskammer den Beitritt der ehemals sozialistischen DDR zur in der Wolle gefärbten kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland.

 

Abwicklung und Abrechnung

Bis heute bleibt der Eindruck, dass die bestehenden Probleme der ostdeutschen Wirtschaft das Ergebnis einer nachwirkenden, maroden DDR-Wirtschaft sind.  Doch der Niedergang der DDR-Wirtschaft wurde weniger durch deren Leistungsdefizite verursacht, als durch den Totalverlust der osteuropäischen Märkte. Durch die Einführung der D-Mark brachen die ehemaligen Absatzmärkte in der Sowjetunion und den anderen RGW-Staaten weg und im Westen fehlte schlichtweg die kauffähige Nachfrage. Abgesehen von der Treuhand, die ostdeutsche Betriebe zum Schleuderpreis an westdeutsche Konzerne verschleuderte, kauften die meisten westdeutschen Betriebe ostdeutsche Unternehmen nur deshalb auf, um sie auszuschlachten oder aus dem Markt zu drängen. Bestes Beispiel, der Kalibetrieb von Bischofferode, der ausschließlich vom westdeutschen Konkurrenten billig aufgekauft wurde, um den eigenen Markt zu sichern. Für die Sanierung und Sicherung der stillgelegten Bergwerke muss der Freistaat noch heute Jahr für Jahr Millionenbeträge einsetzen.[3]

„Doch zu den größten Gewinnern der deutschen Einheit gehören die westdeutschen Banken.(…)[4]  So schrieb der SPIEGEL in seiner Ausgabe 10/1994: „Für westdeutsche Geldhändler hat es einen dickeren Fang wohl nie gegeben: Das komplette Banksystem eines ganzen Staates, rund 180 Milliarden Spareinlagen und die Schulden auf der anderen Bilanzseite, war im Supermarkt der deutschen Einheit billig zu haben.“[5] Die Abwicklung der ostdeutschen Industrie machte sich nirgendwo stärker bemerkbar, als in der Beschäftigungsstatistik. Von 1989 bis 1993 wurden 50,5 Prozent der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe, 75,4 Prozent in Land- und Forstwirtschaft und 68,3 Prozent in Dienstleistungsunternehmen abgebaut.[6]

Ein besonders düsteres Kapitel der Wende wurde mit der Abrechnung der Sieger mit dem Bildungssystem, den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie den Medien aufgeschlagen. In einem so genannten, vom SPIEGEL veröffentlichten Gutachten, erklärte ein namentlich nicht genannter Erziehungswissenschaftler das gesamte Bildungssystem als ein „Lügengebäude…an dem die gesamte Itelligenzia mitgewirkt“ habe. Deshalb, so der „Gutachter“, seien die Arbeiten von „Forschern der ehemaligen DDR…nicht einmal das Papier wert auf dem sie gedruckt wurden.“[7] „Die Berufsausbildung der Jugendlichen an Hochschulen und Universitäten hat nur Sinn, wenn die bisherigen Hochschullehrer entlassen werden. Es muss aber möglich sein, dass Hochschullehrer und Wissenschaftler in einem in einem an einer Westdeutschen Universität angebotenen Studium von 1 bis 2 Jahren ihren Studienabschluss nachholen können…An den Hochschulen und Universitäten in den neuen Bundesländern sollten in der Anfangsphase nur Personen aus den alten Bundesländern ihren Dienst verrichten, forschen und lehren dürfen, um einen wirklichen Neubeginn zu gewährleisten.“[8]

 

Dass dann wirklich so brutal verfahren wurde, wie es der „Gutachter“ forderte, gmuss zwar bezweifelt werden, doch der historisch einmalige Schrumpfprozess der Hochschulen und Universitäten war an sich schon drastisch genug, um vor allem am Marxismus orientierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu kündigen. So zählte zum Beispiel die Technische Universität Dresden zusammen mit der örtlichen Hochschule für Verkehrswesen und der Pädagogischen Hochschule 1989 noch 9000 Beschäftigte. Bis 1992 wurden 3.000 von ihnen entlassen. An der Universität Leipzig mussten nach der Wende 7000 der 12.000 Mitarbeiter in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Von den 218.000 Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verlor die Hälfte ihre Stelle. Bei den Professoren waren es nach Zahlen der britischen Zeitschrift Nature sogar zwei Drittel.[9]

 

Dass es vor allem darum ging, am Marxismus orientierte Hochschullehrer zu entsorgen, zeigte sich 1991 an der Berliner Humboldt Universität. Als der Theologe Prof. Heinrich Fink in der ersten freien Rektoratswahl von allen Statusgruppen gewählt wurde, streute die Gauck-Behörde das Gerücht, er habe für die Stasi gearbeitet, was nie bewiesen wurde – angeblich weil seine Akte verschwunden war. Es gab einen breiten öffentlichen Protest, dem sich auch Rudolf Bahro, der Bürgerrechtler Jens Reich, Christa Wolf und viele Promiente aus unterschiedlichen politischen Lagern anschlossen – doch es half alles nichts: Fink wurde entlassen und ihm folgte der neoliberale Ökonom Wilhelm Krelle, der nicht nur behauptete„ Es gibt keine marxistische Wirtschaftswissenschaft“, sondern gleich auch feststellte:  „Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, so lange ich hier das Sagen habe.“[10] Damit übernahm der Osten ein weiteres Merkmal des Westens, nämlich die Berufsverbote.

Harald Werner, 15.12.99

 

 


[1] Daniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“, Hamburg 2019 S.44

[2] Daniela Dahn a.o.O. S.26

[3] https://www.mdr.de/zeitreise/einfuehrung-bischofferode-doku-100.html

[4] Blickpunkt Treuhandanstalt, PDS/Linke Liste

[5] Der Spiegel 10/1994.

[6] Ebenda S. 125

[7] Daniela Dahn. a.o.O. S.70

[8] Ebenda https://

[9] Berliner Zeitung https:// archiv.berliner-zeitung.de/6.11.19

[10] Daniela Dahn, a.o.O. S.78


[angelegt/ aktualisiert am  14.12.2019]