Harald Werner - Alles was links ist
 

 

Die vergessene Geburtsgeschichte Westdeutschlands

Die westdeutsche Geschichtserinnerung, nicht nur der breiten Öffentlichkeit, sondern auch der meisten Historiker und Politikwissenschaftler, beginnt mit der DM, dem so genannten Wirtschaftswunder und der endgültigen Teilung in zwei deutsche Staaten. In den Jahren zwischen der Niederlage des Faschismus im Mai 1945 und der 1949 vollzogenen Gründung BRD scheinen nur Hunger, allseitiger Mangel und Besatzungsmacht geherrscht zu haben. Tatsächlich aber haben sich in diesen vier Jahren wirtschafts- und ordnungspolitische Prozesse abgespielt, in denen sich eine gesellschaftliche Utopie entwickelte, die weit über den Kapitalismus hinausging und die sich auch im Grundgesetz niederschlug. Und das nicht nur mit den Artikeln 14 und 15, die das Eigentumsrecht und die Enteignung formulierten, sondern auch in der späteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

 

Nach 1945 sprachen sich die Parteien, die FDP einmal ausgenommen, für eine nichtkapitalistische Entwicklung aus. Die SPD erklärte den „Aufbau des Sozialismus“ zur Tagesaufgabe, die KPD sprach etwas vorsichtiger von einer „antifaschistischen Neuordnung“ und die CDU schrieb in ihr Ahlener Programm: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden (….) Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht…“[1]

 

So wurden in den ersten Jahren nach 1945 zahlreiche Landesverfassungen verabschiedet, in denen bereits sehr konkret die künftige Wirtschaftsordnung und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel beschrieben wurde. Am weitesten ging die Hessische Landesverfassung die mit ihrem Artikel 41 festlegte: „(1) Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden 1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen; 2. vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen….“[2] Die Militärregierung verordnete zwar, dass über den Sozialisierungsartikel in einer Volksabstimmung entschieden  wird: Doch 74 Prozent stimmten trotzdem für den Sozialisierungsartikel.  In die nordrhein-westfälische Landesverfassung, die erst im Juni 1950 durch einen Volksentscheid in Kraft trat, konnte ein Artikel (Nr. 21) aufgenommen werden, der die Überführung der Großbetriebe der Grundstoffindustrien in Gemeineigentum vorsah, aber nur Aufforderungscharakter hatte.“[3]

 

Adenauer gewinnt und das Kapital verliert

1952 verabschiedete die Adenauer-Regierung ein Investitionshilfegesetz, mit dem 140.000 Betriebe gezwungen wurden, einige Hundert Millionen DM zum Aufbau der Schwerindustrie aufzubringen. Die meisten bezahlten prompt, doch 78 Firmen reichten beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen das Investitionshilfegesetz ein, weil die Zwangszahlungen zugunsten der Schwerindustrie nach ihrer Meinung gegen die im Grundgesetz verankerte Garantie des Eigentums verstoße und mit den Grundrechten der Freiheit und Gleichheit unvereinbar sei.[4] Die Klage wurde von den Verfassungsrichtern abgewiesen und Adenauer siegte auf der ganzen Linie. Interessant aber war die Begründung, die unter anderem feststellte:

·         Wirtschaftslenkende Gesetze verstoßen nicht schon deshalb gegen den Gleichheitssatz, weil sie die Wettbewerbslage verändern.

·         Artikel14 GG schützt nichts das Vermögen als solches.

·         Die Liquidität des Betriebes ist kein der Eigentumsgarantie unterliegendes Recht.

·         Ein bestimmtes Wirtschaftssystem ist durch das Grundgesetz nicht gewährleistet

Und noch einmal ausführlich: “Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“[5]  Nach dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind also nicht nur Enteignungen rechtmäßig, sondern auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung.

 

Wie unbekannt der Artikel 15 des Grundgesetzes auch unter juristischen Staatsbeamten ist, konnte ich erfahren, als die Niedersächsische Landesregierung über mich 1982 ein Berufsverbot als Lehrbeauftragter verhängte. Grund war der Zweifel, dass ich jederzeit bereit sei die „freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen.“ Bei der in solchen Verfahren üblichen Anhörung durch ein halbes Dutzend Ministerialbeamte wurde mir vorgehalten, dass Enteignungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstießen. Als ich deshalb den Artikel 15 zitierte, empörte sich der Kommisionsvorsitzende: „Das steht da nicht drin.“ Mein Anwalt forderte, dass ein Grundgesetz herbeigeführte werde, was nach einer halben Stunde tatsächlich im Innenministerium gefunden wurde. Der Vorsitzende las, stutzte und stellte ärgerlich fest: „Das steht da wirklich drin.“ Genutzt hat es mir nicht, mein Berufsverbot blieb bestehen.

Harald Werner, 12.2.19

 

   

     

 

 

 


[1] Hans Kremendahl, Thomas Meyer (Hrsg), Sozialismus und Grundgesetz, Kronberg 1974 S. 48

[3] Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945 – 1952.“ Frankfurt am Main 1970, S.154

[5] Bundesverfassungsgericht, Investitionshilfeurteil vom 20.7.1954 (BVerfGR 4, ff.)


[angelegt/ aktualisiert am  12.02.2019]