Harald Werner - Alles was links ist
 

Die Schwierigkeiten der Wahlforschung

Die klassischen Volksparteien schwächeln nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Weniger weil sie sich von ihrer traditionellen Ausrichtung entfernt und deshalb von ihren Stammwähler*innen entfremdet hätten, sondern weil die Gesellschaften differenzierter wurden. Merkmale die früher einmal eindeutig waren, zum Beispiel Beruf, Sozialstatus oder Einkommen bilden keine signifikanten Unterschiede mehr und auch die längerfristige Bindung an linke, konservative oder liberale Milieus hat deutlich abgenommen. Dennoch halten die Wahlforscher bei den gängigen Unterscheidungen von Wählerschichten an sozialstatistischen Kategorien wie Alter, Beruf und Geschlecht fest - vor allem auch weil es andere Daten kaum gibt. Prinzipiell kann man den Demoskopen vertrauen, dass sie genau messen aber was sie messen wissen sie nicht immer. Man könnte sich dabei an Einstein erinnern, der einmal die interessante Feststellung traf, dass nicht alles was man zählen kann auch wirklich zählt, andererseits aber auch nicht alles was zählt tatsächlich gezählt werden kann. Was aber zählt nun bei der Wahlentscheidung?

 

Ein ganz wesentliche Aussage dazu haben Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ gemacht als sie ihre Methode zur Analyse von Bewusstseinsstrukturen zusammenfassten: “… es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“ (MEW 3, S. 26) Lange Zeit hat die marxistische Orthodoxie darunter vor allem die konkrete Arbeitstätigkeit, beziehungsweise die Klassenlage verstanden, dabei aber ignoriert, dass sich die Lebenstätigkeit auf das gesamte Leben bezieht, also nicht nur auf die Stellung zu den Produktionsmitteln und den Anteil am gesellschaftlich produzierten Reichtum. Das konnte so lange ignoriert werden, wie diese Faktoren tatsächlich die entscheidende Rolle bei der Bewusstseinsentwicklung spielten.

 

Spätestens aber seit der neoliberalen Modernisierung, nicht nur der Ökonomie, sondern auch der sozialen Beziehungen, muss man bei der Analyse von Bewusstseinsprozessen stärker das Leben außerhalb der ökonomischen Beziehungen in den Blick nehmen. Zum Beispiel die breite Palette der Freizeitaktivitäten, das soziale Feld des Wohnbereichs, den Bildungsgrad, die Informationsquellen oder die Bindung an kulturelle Milieus. Das Problem eines solchen Herangehens ist, wie es der oben zitierte Einstein ausdrückte, dass einerseits nicht alles was gezählt werden kann, wirklich auch zählt und andererseits nicht alles was zählt, tatsächlich gezählt werden kann. Kurz gesagt: Wir können so gut wie gar nichts über die tatsächlichen Wahlmotive und Wertvorstellungen der Menschen sagen, weil sie kaum abfragbar und vielen wahrscheinlich nicht einmal selbst bekannt sind. Was wir aber können, ist der Versuch, sie theoretisch zu untersuchen, also die Sozialpsychologie hinsichtlich der aktuellen Herausbildung von Bedürfnissen und Handlungsgründen zu befragen. 

 

Identität und Moral

Im politischen Diskurs - öffentlich wie privat - spielen zwei Begriffe eine immer größere Rolle, nämlich Identität und Moral. Mit Identität meine ich in diesem Fall das Bedürfnis der Subjekte nach Zugehörigkeit aber auch der Bewahrung der Bedingungen, mit denen man sich identifiziert. Das Gegenteil tritt ein, wenn das, womit man sich identifiziert, fragwürdig oder unsicher wird. Nirgendwo kommt dieses Bedürfnis nicht nur sprachlich, sondern auch politisch deutlicher zum Ausdruck, als in der rechtsradikalen „Identitären Bewegung“. Sie pocht auf die Bewahrung einer biologisch begründeten Einheitlichkeit einer Volks- und Abstammungsgemeinschaft und sie pocht auf die kulturelle „Reinhaltung“ der Gesellschaft von äußeren Einflüssen an, die sie als „fremd“ oder gar „feindlich“ definiert. Mehr oder weniger ist dies der rote Faden aller rechtspopulistischen, rassistischen oder nationalistischen europäischen Parteien – betrifft aber auch die AfD.

Das Bedürfnis nach Identität spielt aber nicht nur bei der Rechten eine Rolle, sondern prinzipiell bei allen mehr oder weniger weltanschaulichen Parteien. Man möchte, dass diese dem treu bleiben, wofür man sie gewählt hat oder gar Mitglied geworden ist. Kann man sich mit ihnen nicht mehr identifizieren, setzt ein Prozess der Entfremdung ein und die jahrelange Sympathie schlägt in Enttäuschung oder sogar Wut um, die entweder in Wahlenthaltung mündet oder das Bedürfnis nach „Bestrafung“ durch die Wahl einer anderen Partei weckt. Und natürlich sucht die Entfremdung nicht nur nach konkreten, auf die praktische Politik bezogenes Fehlverhalten. Den „Sündern an der Programmatik“ wird in der Regel nicht nur die Verletzung inhaltlicher, sondern auch moralischer Grundsätze angelastet. Privilegien, die man den führenden Köpfen früher einmal zugestanden hat, mutieren plötzlich zu Moralverstößen, wie überhaupt die Skandalisierung der „Eliten“ zur Begleitmusik des Politischen wird.

 

Das Trauma der SPD

Die kurze Zeit in der Schröder, nach dem Sieg über Kohl, die SPD wieder nach vorne brachte, endete in einem Desaster. Wobei man berücksichtigen muss, dass der nachfolgende Machtverlust im europäischen Trend lag. Die Sozialdemokratie verlor insgesamt ihre Hegemoniefähigkeit, weil sie unfähig zur Entwicklung einer programmatischen Alternative zur neoliberalen Modernisierung war, sondern sich ihr mit ein bisschen mehr Orientierung am Sozialen an den Zeitgeist anzupassen versuchte. Deshalb reichte es auch nicht, sich im Schneckentempo von Hatz IV zu distanzieren, denn die Hartz-Gesetze mögen zwar im Alltagsbewusstsein eine zentrale Rolle spielen, sind aber nicht der ausschlaggebende Grund für den Niedergang der SPD. Entscheidender war die Unfähigkeit fast aller sozialdemokratischer Parteien, den Umbrüchen in der Beschäftigtenstruktur und dem damit verbundenen Wertewandel gerecht zu werden. Ein großer Teil der abhängig Beschäftigten schied aus dem Berufsleben aus, vor allem in der Industrie, während die nachfolgende Generation angesichts der Umbrüche in der Arbeitswelt und im Alltagsleben auch differenziertere Bedürfnisse entwickelte. Das größte Defizit der SPD bestand jedoch in einer doppelten Unfähigkeit. Erstens übersah sie vollständig, dass sie sich nicht nur von Hartz IV zu distanzieren hatte, sondern vor allem von der von ihr selbst verursachten Prekarisierung der Arbeitswelt und der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Nicht weniger wichtig, obwohl auch von der Sozialdemokratie vorangebracht, ist die Deregulierung des Finanzmarktes, die hauptverantwortlich für überbordenden Profite der Geldvermögen ist. Dass es anders hätte gehen, die Sozialdemokratie wieder Akzeptanz hätte gewinnen können, zeigte die Wahl von Martin Schulz zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten. Innerhalb von vier Wochen gewann die Partei 10.000 neue Mitglieder und auch ihre Umfragewerte schnellten, wenn auch nur für kurze Zeit, nach oben. Das Problem war nur, dass die Erneuerung der Parteispitze nicht von einer Erneuerung der politischen Programmatik begleitet war und die Stimmung ebenso sank, wie später die Wahlstimmen.

 

Der Hype der Grünen 

Der erstaunliche, und offensichtlich auch anhaltende Hype der Grünen, hat zunächst einen ganz einfachen und wenig spektakulären Grund: Sie haben keine Fehler gemacht. Was sie immer schon im Programm hatten, nämlich Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit und Liberalisierung der sexuellen Orientierung haben die anderen Parteien im Laufe der Zeit übernommen, wobei die Grünen nicht auf das Erstgeburtsrecht pochten und das Wahlvolk von sich aus erkannte, dass die Grünen offensichtlich seit langem schon politische Schwerpunkte setzen, die inzwischen von allen Partein, mit Ausnahme der AfD, übernommen wurden. Die Grünen profitieren auch davon, dass alle anderen Parteien mehr oder weniger Probleme mit ihren Flügeln haben, während sie bei den Grünen kaum noch eine Rolle spielen und Personalentscheidungen unspektakulär getroffen werden.

Die Grünen sind auch die eigentlichen Gewinner des tiefgreifenden Wandels in der Sozialstruktur. Noch immer haben die Grünen den höchsten Anteil an den weiblichen Wahlstimmen, ihre Hochburgen liegen in den Metropolen mit hohem Akademikeranteil und, wie kürzlich ein Zeitungskommentar feststellte, wird man eher bei der AfD einen Schwulen finden, als einen Grünen ohne höheren Bildungsgrad.   

Harald Werner 7.12.18

 

 

 

 


[angelegt/ aktualisiert am  08.12.2018]