Harald Werner - Alles was links ist
 

Asymmetrische Kommunikation

Lenin wird der Satz zugeschrieben: Wenn die politische Richtung stimmt, entscheidet die Organisation alles. Egal ob er es wirklich gesagt oder wie er es gemeint hat, in linken Parteien und Gewerkschaften hat man sich stets darangehalten, sich nach zentralen Richtungsentscheidungen vor allem um die organisatorische Durchsetzung zu kümmern. Daran hat sich bislang wenig geändert, auch wenn man heute lieber von Politikmanagement statt wie früher von Agitation und Überzeugzeugungsarbeit spricht. Eines ist jedoch geblieben: Es handelt sich um eine asymmetrische Beziehung, in der die einen überzeugen wollen und die anderen überzeugt werden müssen. Inzwischen gibt es Agenturen, die nicht nur für das klassische Verkaufsgeschäft trainieren, sondern ihre Methoden auch für das Einsammeln von Spenden oder für Straßenaktionen einsetzen, bei denen Mitglieder für UNICEV, Greenpeace oder das Rote Kreuz geworben werden. Das Training solcher kurz und erfolgreich ablaufenden Gespräche orientiert sich an einer alten Methode der Werbewirtschaft, nämlich an AIDA, wobei es nicht um Noten geht, sondern um vier Überzeugungsschritte. A steht für Attention, also Aufmerksamkeit erzeugen, das I für Interest, also Interesse entwickeln, D für Desire, also einen Wunsch wecken und schließlich mit dem Schritt A eine Aktion auszulösen. Die Methode ist ebenso simpel wie erfolgreich, weil sie sowohl ein kurzes, werbendes Gespräch, als auch eine Rede und einen kurzen Text strukturieren hilft. So „professionell“ geht es an den Infoständen der LINKEN bislang glücklicherweise nicht zu, auch nicht auf unseren Plakaten oder Flugblättern, doch auch hier handelt es sich um eine Form asymmetrischer Kommunikation, über deren Grenzen man sich bewusst sein sollte.

 

Ausgesprochen asymmetrisch geht es auch in den meisten Mitgliederversammlungen zu. Vor allem weil sie durch organisatorische Fragen dominiert werden, die nicht von den Anwesenden auf die Tagesordnung gesetzt werden, sondern von den Vorständen, die ihrerseits von der nächst höheren Ebene mit Anforderungen eingedeckt werden. Das alles drängt nicht nur die politische Diskussion an den Rand+, sondern ist auch nicht besonders spannend. Wer hier interessante politische Debatten erwartet, wird schnell enttäuscht. In einer Sitzung des Parteivorstandes, in der über den Zustand der Basisorganisationen diskutiert wurde, stellte ich die Frage: „Würdet ihr jemanden, den ihr für die Partei werben wolltet, dafür in eure Basisorganisation einladen?“ Ich erntete ein Lachen und konterte sarkastisch: „So weit sind wir also schon gekommen, wir lachen bereits darüber.“

 

Unter Kommunikation wird in den maßgeblichen Wörterbüchern grundsätzlich ein Austausch von Informationen oder Erfahrungen verstanden, andererseits aber auch eine Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Letzteres kommt der Realität freilich näher, weil die so genannte Mediengesellschaft von Sendern dominiert wird und den Empfängern bestenfalls das Ab- oder Umschalten bleibt. Historisch gesehen hat sich der persönliche Austausch von Informationen oder Erfahrungen im gleichen Maße verringert, wie die Zahl und Professionalität der Medien zunahm. Wobei die angeblich sozialen Netze die Tendenz zur Verringerung des persönlichen Austausches paradoxerweise nicht geschwächt, sondern sogar noch verstärkt haben. Zum einen wird nicht in Echtzeit miteinander kommuniziert, sondern zeitversetzt und zum anderen beschränkt sich der Austausch in der Regel auf mehr oder weniger banale Kurzmitteilungen. Anders ausgedrückt: Die Menge der Mitteilungen steht in einem krassen Gegensatz zu ihrer Tiefe und besteht aus einer Art Endlosschleife asymmetrischer Kommunikation.

 

Warum wir Gespräche brauchen

Wenn ich in Bus oder U-Bahn unterwegs bin, besteht nicht die geringste Gefahr, dass mich jemand anspricht, weil mindestens die Hälfte der Mitfahrer*innen auf ihr Handydisplay starren oder rastlos darauf tippen. Auch Leser*innen von bedrucktem Papier bilden eine weiter schrumpfende Minderheit. Mehrere Untersuchungen haben obendrein gezeigt, dass sich die jüngere, in den Netzen aktive Generation zunehmend lieber mit kurzen Texten, als im Gespräch mitteilt, weil das Schreiben ihnen mehr Distanz ermöglicht. Denn was man einmal gesagt hat, lässt sich nur schwer zurücknehmen und der Dialog von Angesicht zu Angesicht vergrößert die Gefahr, nicht die richtigen Worte zu finden oder ungewollt ins Fettnäpfchen zu treten.  

Psychologisch gesehen ergeben sich aus dieser Vernachlässigung des Gesprächs eine ganze Reihe von Problemen, weil es einen unmittelbaren Zusammenhang von Sprechen und Denken gibt. Erstens geht schon beim Kleinkind das Sprechen dem Denken voraus und zweitens behalten wir auch im späteren Leben einen Sachverhalt dann am besten, wenn wir darüber reden. Als ich einmal mit einer Kollegin eine Theke betreute und wir immer wieder die Zeche zusammenzählen mussten, machten wir das häufig nicht im Kopf, sondern durch lautes Rechnen. Meine Kollegin verblüffte mich damit, dass sie dabei französisch sprach, was schlicht daran lag, dass sie die Zahlen und die Grundrechenarten als Kind in Frankreich gelernt hatte – und zwar durch reden. Das heißt, dass man komplizierte gedankliche Operationen am besten beherrscht, wenn man einmal darüber geredet hat. Selbst was man konzentriert liest, behält man erst richtig, wenn man es anderen erklären und gegen Einwände verteidigen musste.

 

Doch so wichtig auch die Sprache für die Kommunikation sein mag, wir nehmen im persönlichen Gespräch noch deutlich mehr wahr, als uns die gesprochenen Worte mitteilen können. Als erstes natürlich durch den Tonfall und zweitens durch unzählige Momente, die man umgangssprachlich als Körpersprache bezeichnet. Das Gesicht besitzt zum Beispiel 26 Gesichtsmuskeln, die je nach Temperament unsere Sprachhandlung begleiten und ungewollt das gesprochene Wort entweder unterstreichen oder fragwürdig erscheinen lassen. Zuständig für die Interpretation des gesprochenen Wortes ist das System der sogenannten Spiegelneurone. Es handelt sich um „Nervenzellen des Gehirns, die im eigenen Körper einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel eine Handlung oder eine Empfindung, steuern können, zugleich aber auch dann aktiv werden, wenn der gleiche Vorgang bei einer anderen Person nur beobachtet wird, (…) Die Spiegelresonanz ist die neurobiologische Basis für spontanes, intuitives Verstehen..“[1] Wie wichtig nicht nur das Sprechen, sondern auch das gleichzeitige Sehen für die Kommunikation ist, haben Neurologen beim Vergleich zwischen Gesprächen von Angesicht zu Angesicht und Telefongesprächen festgestellt. Schon beim Telefonieren werden durchschnittlich 25 Prozent weniger Signale gesendet und empfangen als im persönlichen Gespräch. Noch weitaus größer ist der Informationsverlust in der Netzkommunikation. Erstens natürlich, weil beim Lesen all die metasprachlichen Signale wegfallen, die ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht oder sogar noch eine Rede sendet. Noch problematischer aber ist das Leseverhalten im Netz. Das Überangebot an schriftlichen Mitteilungen und der häufige Wechsel zwischen den Seiten, die auch noch durch Fotos oder Videos unterbrochen werden, führen zu einer permanenten Reizüberflutung. Die wenigsten Texte werden tatsächlich bis zum Ende gelesen und Untersuchungen haben ergeben, dass bei 59 Prozent aller Beiträge Facebook-Beiträge nur die Überschrift gelesen wird.[2]   

 

Partei im Gespräch

Der Vorstand der LINKEN hat auf die Bewegungslinke mit einer Veranstaltung mit dem Titel „Partei in Bewegung“ reagiert. Wichtiger scheint mir, dass sich die LINKE nicht nur bewegt, sondern vor allem im Gespräch ist. Ganz im Sinne von Lothar Bisky, der einmal die Parole ausgab: „Wir wollen keine veröffentlichende, sondern eine sprechende Partei sein.“ Nur wenn wir mehr miteinander über die aktuellen politischen Entwicklungen sprechen, lässt sich die typische asymmetrische Kommunikation überwinden. Wenn sich die LINKE gegenüber der Sammlungsbewegung als attraktiver erweisen will, muss sie sich meiner Meinung nach grundlegend ändern und ihre Basisorganisationen zu einem kommunikativen Raum umbauen. Damit ist keine Partei des bekannten neuen Typs gemeint, die sich historisch ausreichend blamiert hat, sondern man sollte sich daran erinnern, was die frühen Arbeiterparteien einmal waren, nämlich Lernorte und Ambulatorien für gesellschaftliche Alternativen. Lange bevor sich Parteien bildeten, geschah dies im Alltag, in Selbsthilfeeinrichtungen und Bildungsvereinen, die das Bedürfnis nach kultureller Emanzipation befriedigten. Die Organisationsfrage wurde nicht durch Strukturen beantwortet, sondern durch die Befriedigung des Bedürfnisses nach praktischer Solidarität und Weltverständnis.

 

Vielleicht müssen wir uns bei der Erneuerung der Partei auch nur an ihre eigentliche Funktion im politischen System erinnern. Lassen wir einmal alle Verkrustungen der bestehenden Parteien, die Bürokratisierung und ihre asymmetrische Kommunikation beiseite, dann bleiben sie immer noch eine Institution, auf die eine parlamentarische Demokratie nicht verzichten kann. Weniger als Organisation zur Durchführung von Wahlen, was sich auch anders organisieren lässt, sondern als Institution der Interessenvertretung und Meinungsbildung. Vor allem linke Parteien müssen deshalb auch Lernorte und Laboratorien sein, in denen die Gegenwart untersucht und Alternativen entwickelt werden. Und zwar nicht allein in dafür eingesetzten Kommissionen, sondern auf allen Ebenen, vor allem aber an der Basis. Und im Gegensatz zu einer Bewegung können Parteien nicht nur die Machtfrage stellen, sondern sie müssen sie auch beantworten, und das auf allen politischen Ebenen. Und weil sie von den Gemeindevertretungen, über die Landtage bis zum Bundestag um Stimmen und Sitze kämpfen müssen, sind sie auch zur Entwicklung einer flächendeckenden Struktur gezwungen. Diese ausgefächerte Organisationsform aber ist eine entscheidende Voraussetzung für eine breit gefächerte Meinungsbildung. Vorausgesetzt allerdings, es handelt sich wirklich um eine Partei im Gespräch, einem Ideenlabor, in dem der Meinungsstreit zu einer permanenten Überprüfung und Weiterentwicklung der eigenen Programmatik zwingt.

Harald Werner 23.9.18

 

 


[1] Joachim Bauer, Warum ich fühle, was Du fühlst, Hamburg 2005, S.56

[2] Schlecky Silberstein, Das Internet muss weg, München 2018, S.78

 

 


[angelegt/ aktualisiert am  24.09.2018]