Harald Werner - Alles was links ist
 

Solidarität verbindet und schließt auch aus

Keine Forderung ist in der politischen und gewerkschaftlichen Linken positiver besetzt, als der Begriff der Solidarität. Doch hinter diesem Pathos verbirgt sich zugleich ein prozessierender Widerspruch. Solidarität verbindet nämlich nicht nur, sondern schließt auch aus. Niemand kann mit allen solidarisch sein, sondern immer nur mit denen, die dazu gehören. Bei Lafontaine gehören „Fremdarbeiter“ schon nicht mehr dazu und wer die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung kennt, weiß, dass auch die ersten englischen Gewerkschaften keine Hilfsarbeiter oder Saisonbeschäftigte aufnahmen, weil sie ihnen nicht nur fremd waren, sondern auch die Löhne drückten. Dass aber die Facharbeiter ihre eigenen Interessen durchsetzten, verstand sich wie von selbst, weshalb der Soziologe Emile Durkheim in diesem Fall von einer „mechanischen Solidarität“ sprach. Ganz anders die „organische Solidarität“, die sich nicht auf offensichtliche, sinnlich wahrnehmbare Gemeinsamkeit gründet, sondern auf gedankliche Einsicht    in die gemeinsame Klassenlage angewiesen ist. Typischerweise begannen deshalb die großen internationalen Kämpfe, wie etwa für den Achtstundentag, das Frauenwahlrecht oder gegen die imperialistischen Kriege erst am Ende des 19. Jahrhunderts, nämlich nach einer Phase, in der sich die Arbeiterbewegung ihre eigene politische und ökonomische Theorie aneignete.

 

Paradoxerweise verlor die „organische Solidarität“ ihre Bedeutung nicht nach großen Niederlagen, sondern mit der Entwicklung des korporatistischen Sozialstaates. Die politischen und ökonomischen Kämpfe konzentrierten sich in ihm immer stärker auf Details der Klassenlage, auf die betriebliche Mitbestimmung, auf das Tarifrecht und das immer dichtere Netz der sozialen Sicherungssysteme. Je dichter dieses Netz wurde, desto wichtiger wurde die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Anspruchsberechtigten und desto schwächer das Bewusstsein für die organische Verbindung aller abhängig Beschäftigten. Ganz zu schweigen von der Solidarität für Menschen mit Behinderungen, Dauerarbeitslosen und letztlich eben auch mit Flüchtlingen. Denn für die organische Solidarität mit Asylbewerber*innen und Flüchtlingen mangelt es so ziemlich an allem, was die Standortsolidarität zu bieten hat: Nämlich die Verbindung durch Lohnarbeit, den gemeinsamen Bezug auf kulturelle oder religiöse Traditionen und natürlich die Einbindung in den Rechtsrahmen des Sozialstaates. Was den Migranten letztlich bleibt ist der Bezug auf die Menschrechte, die in der konkreten Auseinandersetzung mit den Gegnern der Migration eben so wenig überzeugen können, wie die viel zitierte Werteorientierung, denn in der Politik, wie im alltäglichen Leben, geht es nicht um Werte, sondern immer noch um handfeste Interessen.

 

Die Falle des Menschenrechtsrigorismus

So wichtig der Bezug auf die allgemeinen Menschenrechte auch ist, so hilflos ist er auch, wenn es konkret wird. Nichts zeigt das besser als die Forderung nach „offene Grenzen für alle“, die im Grundsatzprogramm der LINKEN rigoros formuliert: „Jeder Mensch muss das Recht haben zu wählen, wo sie oder er leben möchte.Ein wenig erinnert dieser Rigorismus an Anatol France, als er ironisch feststellte, dass die Gleichheit des Gesetzes „Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen." Besser als bei Anatol France lässt sich die Hilflosigkeit der Forderung nach offenen Grenzen nicht karikieren, denn die freie Wahl des Wohnsitzes ist natürlich bereits garantiert, nämlich für diejenigen, die die materielle Möglichkeit dafür mitbringen. Schlimmer aber noch ist, dass diese ebenso pathetische wie unrealistische Forderung Wasser auf die Mühlen der Migrationskritiker gießt.

Wer tatsächlich die Grenzen für Flüchtlinge öffnen will, die verfolgt oder gefährdet werden, egal aus welchen Gründen, muss zunächst einmal drei Dinge klarmachen: Erstens muss belegt werden, dass kaum jemand gerne seine Heimat verlässt, wenn er nicht dazu gezwungen wird. Sei es durch Bedrohung seines Lebens oder Verlust seiner Existenzgrundlage. Zweitens muss auch über Zahlen geredet werden. Die angeblichen finanziellen Belastungen der Bundesrepublik durch Migration werden einerseits maßlos überschätzt und andererseits sind über 90 Prozenten der Migranten Unionsbürger, arbeiten überwiegend in Deutschland und zahlen in der Summe mehr Sozialbeiträge, als die Migration selbst kostet. Schließlich muss drittens daran erinnert werden, dass die BRD in ihrer Geschichte nicht nur mehr Flüchtlinge integriert hat, als momentan zu erwarten sind, sondern tatsächlich aus ökonomischen Gründen auf Einwanderung angewiesen ist.  

 

Die Klassensolidarität neu denken

Wir haben uns daran gewöhnt Flüchtlinge nach ihrem Rechtsstatus zu unterscheiden, was wenig über ihre Fluchtursachen und noch weniger über die Verursacher sagt. Ob es sich um Kriegsflüchtlinge, religiös Verfolgte oder Hungernde handelt, sie alle sind Opfer der geostrategischen Politik der kapitalistischen Hauptländer und des internationalen Finanzkapitals. Es sind die gleichen Kräfte, mit denen die abhängig Beschäftigten auch hierzulande konfrontiert sind. Die Menschen fliehen aus prekären Lebenslagen, die durch die neoliberale Landnahme des Kapitals, dem Kampf um Rohstoffe und hegemoniale Strategien verursacht sind. Mögen die Kriegsflüchtlinge aus dem Irak und aus Afghanistan oder aus den Hungergebieten Afrikas aus unterschiedlichen Gründen flüchten, in letzter Konsequenz sind sie Opfer einer imperialistischen Strategie, die Märkte erobern, Rohstofflager ausbeuten und Kapital akkumulieren will. Es sind die gleichen Konzerne und Finanzinstitute, die in Europa Arbeitsplätze vernichten und Armutszonen wachsen lassen. Nichts liegt deshalb näher, als auf dieser Grundlage eine organische Solidarität zwischen den Arbeitenden des Norden und den aus dem Süden flüchtenden Menschen zu entwickeln.  

Harald Werner 12.9.18

  


[angelegt/ aktualisiert am  12.09.2018]