Harald Werner - Alles was links ist
 

Von Heringen, Trampelfaden und Volksentscheiden

Der Begriff der Schwarmintelligenz suggeriert zunächst etwas Positives, nämlich die „Weisheit des Kollektivs“, das zusammengenommen immer klüger zu sein scheint als der Einzelne. Doch Schwarmintelligenz hat kaum etwas mit Intelligenz und gar nichts mit Demokratie zu tun. Die Natur allerdings hat zahllose Beispiele für Schwarmintelligenz parat. Zum Beispiel Heringsschwärme, die wie durch Geisterhand bewegt in Formation schwimmen, dabei Hindernissen oder Fressfeinden ausweichen und nur als Masse überleben - das Gleiche bei Zugvögeln oder Insekten. Dieses Phänomen beobachteten erstmal auch die Architekten einer amerikanischen Universität, als sie eine logische und zeitsparende Wegestruktur zwischen den Instituten finden wollten. Weil man sich allerdings nicht einigen konnte, kam man auf die Idee, zunächst einmal Rasen anzulegen. Was aber stellte sich nach einem Jahr heraus? Auf dem Rasen waren Trampelpfade entstanden, die die jeweils kürzesten, aber auch am meisten begangenen Wege zeigten. Was die Architektenintelligenz nicht zustande brachte, schuf scheinbar der Studentenschwarm.  

·Mit Demokratie hat das beschriebene Ereignis ebenso wenig zu tun wie mit intelligentem Verhalten, sondern es erinnert eher an die Theorie von Gustave Le Bon die er in seinem 1895 erschienenen Buch „Psychologie der Massen“ beschreibt. Massen werden nach seiner Meinung nicht durch rationale Überlegungen bewegt, sondern durch intuitive Impulse, eingeschliffene Gewohnheiten und kulturell verankerte Deutungsmuster. Egal wie man zu dieser Theorie als Ganzes steht, steckt in ihr doch auch ein Körnchen Wahrheit. Das Alltagsbewusstsein der Menschen neigt zum konservativen, das Bestehende akzeptierenden Denken. Was übrigens auch das Problem direkter Demokratie ist, die selten kreativen oder kritischen Kräften zur Mehrheit verhilft, sondern den Konservatismus festigt. Durch nichts wird das besser belegt, als durch die über 300 Volksabstimmungen, die seit 1848 in der Schweiz stattfinden. Die Ablehnung von Volksentscheiden, die sich für soziale Reformen oder die Liberalisierung der Gesellschaft einsetzten wurden zu fast 80 Prozent abgelehnt. Nicht anders verhält es sich mit den großen europäischen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte, die immer von intellektuellen, sozialkritischen oder liberalen Minderheiten angestoßen wurden.

 

Die Dummheit des Schwarms  und die Intelligenz der Individuen

Ob man nun Marx Kapital oder Einsteins Relativitätstheorie nimmt, beide waren zunächst Außenseiter und ihre bahnbrechenden Erkenntnisse haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit Schwarmintelligenz. Beide standen an der Spitze gesellschaftlicher Diskurse, die sich über Generationen hinzogen, von zahlreichen Vordenkern zu einer gewisse Reife gebracht, kritisch hinterfragt wurden und erst am Ende in eine geniale Erkenntnis mündeten. Die in der Natur beobachtbare Schwarmintelligenz stützt sich jedoch auf das Gegenteil, nämlich auf die in Jahrtausenden genetisch verankerte Kontinuität der jeweiligen Art. Der Schwarm handelt nicht intelligent, sondern instinktiv. Wenn es denn eine Parallele zwischen der Entwicklung der Natur und der geistigen Entwicklung der Menschheit gibt, dann ist es die von Darwin entdeckte Evolution der Arten. Evolutionsprozesse entstehen nicht, wie Darwin häufig missverstanden wird, durch den Sieg der Stärkeren über die Schwachen, sondern vor allem durch geschickte Anpassung, Flexibilität und maximale Ausnutzung der Umweltangebote. Und diese Entwicklung gelingt um so besser, je reichhaltiger das Umgebungsmilieu. Auch die Evolution des Geisteslebens und der individuellen Intelligenz gründen sich auf ein reichhaltiges, anregendes Milieu, in dem jede und jeder möglichst viele Möglichkeiten zur Entwicklung seiner Intelligenz hat und sich dem Schwarm nicht intuitiv anpasst, sondern gegen den Strom schwimmen kann.

Dass der Mythos der Schwarmintelligenz besonders gut im Umfeld der Digitalindustrie gedeihen konnte, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen, weil die Digitalisierung in er Lage ist, eine früher nie vorstellbare Menge an Informationen zu sammeln, durch Logarithmen auszuwerten und in kürzester Zeit Ergebnisse zu erzielen, für die früher nicht nur Monate, sondern auch ganze Institute gebraucht wurden. Zum anderen ähnelt diese Arbeitsteilung tatsächlich einem Schwarm, der nicht von der Intelligenz der Individuen geregelt wird, sondern von der intelligenten Maschinerie vorgegeben ist. Wie der Hering in seinem Schwarm von einem genetisch verankerten Programm gesteuert wird, wird der IT-Beschäftigte von der intelligenten Maschinerie gesteuert.

Ausgerechnet Gunter Dueck, ein ehemaliger Cheftechnologe bei IBM, rechnet in seinem Buch „Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam“[1] radikal mit dem in der Digitalindustrie gepflegten Mythos der Schwarmintelligenz ab. Wobei er sich weniger mit den natur- oder gesellschaftswissenschaftlichen Aspekten der Schwarmintelligenz beschäftigt, sondern mit der konkreten Projektarbeit.

„Im realen Leben“, so Dueck, funktioniert die Schwarmintelligenz nicht. „Denn in der Unternehmenswirklichkeit treffen nicht für jedes spezielle Problem die jeweils besten Experten in immer neuen Teams zusammen, sondern wir haben sehr gemischte Abteilungsmeetings mit immer denselben Zusammensetzungen und eher Kreisklasse als Weltklasseexperten. Im Internet schwärmen vielleicht die intelligenten Weltmeister, aber auf dem Flur stoppeln wir uns wieder einmal eine mittelmäßige und nicht ganz ausgereifte Lösung zusammen. Wir bleiben brav innerhalb unseres Tellerrandes oder Gebäudeteils, wir zanken uns untereinander, wir reden nicht einmal mit einer anderen Abteilung in dritten Stock. Im wirklichen Leben löst man die verschiedensten Probleme in immer gleicher Umgebung, nämlich im Unternehmen, in der Familie, in der Partei, beim eigenen Kundenstamm oder in Abteilungsmeetings. Neues Problem – alte Abteilung. Da erlebt man nicht so oft die Weisheit der Masse, wenn überhaupt je! Gemeinschaften und Teams sehen sich unter vielen verschiedenen Interessenlagen gelähmt und änderungsunwillig. Meetings oder Streitigkeiten, die um die immer gleichen Streitpunkte kreisen, lassen uns verzweifeln. Keine Spur von Schwarmintelligenz – hier herrscht die Schwarmdummheit!“[i]

 

Die Arbeitsweise solcher Projekte verbietet zudem jede Abweichung vom „von oben“ gewollten Ziel und darf es auch nicht hinterfragen, weil das Projekt nicht dem Ziel wissenschaftlicher Weiterentwicklung dient, sondern der Erfüllung einer betriebswirtschaftlichen Zielvorgabe. Besonders fatal für die Betroffenen, wie auch für die Entwicklung neuer Technologien ist, dass mit der Auflösung einer solchen Arbeitsgruppe jede Menge Erfahrung verloren geht und es kaum eine über das Projekt hinausgehende Zusammenarbeit gibt.

 

Die Schwarmintelligenz und das gesellschaftliche Individuum bei Marx

Marx, der übrigens ein glühender Anhänger des industriellen Fortschritts war, entwickelte eine gänzlich andere Zukunftsutopie von gesellschaftlicher Intelligenz, als die Propheten der intelligenten Schwärme. Für ihn war die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die  eigentliche Produktivkraft der zukünftigen Gesellschaft. Den Diebstahl an fremder Arbeitszeit, also die Ausbeutung der Lohnarbeit, betrachtete er als eine miserable Grundlage des Reichtums, gegenüber einer Gesellschaft, in der die Entwicklung aller Individuen, die eigentliche Quelle des Reichtums ist. Oder anders gesagt, wo möglichst viele möglichst viele Möglichkeiten haben, sich das Wissen ihrer Zeit anzueignen, profitiert davon auch die Gesamtgesellschaft. In gewisser Weise spiegelt sich diese Einsicht auch schon in der aktuellen ökonomischen Debatte wider, wenn von „weichen Standortvorteilen“ die Rede ist. Auch wenn die ursprüngliche Quelle des Reichtums immer noch die Lohnarbeit ist, entscheidet letztlich der Stand wissenschaftlich-technischer Entwicklung, darunter das Bildungssystems und die Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens, über die Produktivität einer Volkswirtschaft.  

Harald Werner 26.6.18

 

 


[1] Frankfurt/Main – New Yorck 2015



[i] Ebenda


[angelegt/ aktualisiert am  26.06.2018]