Die sozialpsychologischen Defizite linker Politikkonzepte

Wenn sich an den kommenden Montagen in Frankfurt/Main, Leipzig, Hamburg, Rostock  und Berlin jeweils Hundertausende zu Montagsdemonstrationen versammelten, um gegen die zunehmende Prekarisierung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse auf die Straße zu gehen, kletterten die Umfragewerte der LINKEN mit Sicherheit auf 12 oder mehr Prozent. Es gibt jedoch mindestens drei Gründe, weshalb das unwahrscheinlich ist.

Erstens sind die am stärksten von der Prekarisierung betroffenen Gruppen weitgehend entpolitisiert , gehören ganz unterschiedlichen kulturellen Milieus an, besitzen keine gemeinsame Identität und bilden zudem auch noch die Hauptgruppe der Nichtwählerinnen. Die LINKE vertritt ihre Interessen so entschieden wie keine andere Partei, kann aber nicht wirklich mit ihren Stimmen rechnen. Zweitens ist es ohnehin ein Irrtum, dass Parteien hauptsächlich wegen ihrer programmatischen Aussagen gewählt werden. Viel wichtiger ist ihre Fähigkeit an aktuelle Massenstimmungen anzuknüpfen und eine Projektionsfläche für die Lebensentwürfe bestimmter sozialer Gruppen abzugeben. Abgesehen davon, dass die mediale Kommunikation der LINKEN die Masse der von ihr programmatisch vertretenen Menschen überhaupt nicht erreicht, kann sie bei ihnen auch keine gemeinsame Massenstimmung ansprechen, weil diese sehr unterschiedlichen Gruppen auch von unterschiedlichen Formen der Resignation geprägt sind und Gemeinschaft nur noch als gemeinsame Unterhaltung erleben. Ihre Lebensentwürfe sind von gemeinschaftlicher Vereinzelung geprägt, nicht von  selbstbewusster Individualisierung. Und drittens wird generell das ungemein große Bedürfnis der Menschen nach kollektiver Identität unterschätzt, das sich in der sinnentleerten Gegenwart vor allem in der Identifikation mit den Erfolgreichen ausdrückt, ob es nun Markennamen oder Bundesligavereine sind.

Gerade die Verlierer der neoliberalen Modernisierung brauchen wahrscheinlich stärker als alle anderen eine identitätsstiftende Projektionsfläche, hinter der die Tristesse des eigenen Alltags verschwindet und die das Gefühl vermittelt, an einer großartigen Sache teilzuhaben. Ob man sich deshalb mit der LINKEN identifiziert, dürfte weniger von ihren konkreten Forderungen abhängen, als  von der Fähigkeit Aufbruchstimmung auszustrahlen, Mut zu machen und die weitgehende Entpolitisierung großer Bevölkerungsgruppen aufzubrechen.  Linke Politik muss natürlich inhaltlich überzeugen, wichtiger für eine dauerhafte Bindung aber ist ein gewisses Maß an Begeisterung. So, wie sich kaum jemand in einer sozialistischen Partei engagiert, um in absehbarer Zeit den Sozialismus zu erleben,  begeistern sich auch linke Wählerinnen und Wähler nicht wegen eines absehbaren materiellen Vorteils für uns, sondern weil wir Hoffnung auf eine andere Zukunft machen. Das unmittelbar bewegende Moment ist also nicht materieller Natur, sondern, wie man es heute nennt, eine postmaterialistische Orientierung.  

Soziale Gerechtigkeit und New-Green-Deal

Eine postmaterialistische Orientierung wird in der Regel vor allem den ökologisch gesinnten Mittelschichten nachgesagt, die freilich auch selten unter materiellen Defiziten zu leiden haben. Entsprechend rangiert das Wählerinnenpotenzial der Grünen auf der Wohlstandsskala noch vor dem der FDP, denn 16 Prozent Grünwählerinnen gehören zum oberen Fünftel der Gesellschaft.[1]

 

Dieses soziale Milieu  ist so erfolgreich, dass es sich postmaterialistische Werte nicht nur leisten kann, sondern sie auch als existenzsichernde Zukunftsoption begreift. Es soll nicht geleugnet werden, dass diese Gruppe, anders als frühere Eliten, sich an Werten orientiert, die auch zum Wertekanon der LINKEN gehören. Etwa Friedenspolitik, internationale Solidarität und sogar soziale Gerechtigkeit. Wobei entsprechende Studien zeigen, dass kaum ein Begriff so unterschiedlich ausgelegt wird, wie soziale Gerechtigkeit. Wenn man sich allerdings ein Minimum an marxistischer Denkweise bewahrt hat, sollte auch klar sein, dass sich die Lebensinteressen der Menschen nur in Ausnahmen von ihren ökonomischen entfernen. Für soziale gerecht kann man Steuersenkungen halten, die Einführung der Schuldenbremse oder auch das Lohnabstandsgebot für Hartz IV.

Ob die Grünen es wollen oder nicht, werden sie die Interessen der oben genannten Gruppen  vertreten müssen, wenn sie nicht einen wachsenden Anteil ihrer Wählerschaft verlieren wollen. Der Green New Deal wird und kann auch ohne soziale Gerechtigkeit auskommen, wenn es um Schuldenabbau, die Stabilisierung der Sozialausgaben und um den Erhalt von Bildungsprivilegien geht. Sozial-ökologisch umbauen kann man eben auch, ohne die Lohnquote zu erhöhen, die Bürgerversicherung durchzusetzen und die Exportorientierung zu überwinden. Im Gegenteil, die Bundesrepublik ist auf dem besten Wege, sich eine grüne Exportüberlegenheit zu schaffen.[2] 

Trotzdem soll nicht geleugnet werden, dass zum Wählerinnenpotenzial der Grünen auch andere und sogar besserverdienende Gruppen gehören, die soziale Gerechtigkeit im Sinne der LINKEN buchstabieren. Sie als Wählerinnen zu gewinnen setzt aber nicht nur voraus, dass die soziale Frage mit der ökologischen einfach verbunden wird, sondern dass die Partei in dem Sinne ein Alleinstellungsmerkmal besitzt, dass sie den ökologischen Umbau als ein Moment sozialer Gerechtigkeit  begreift.

Die LINKE muss nach unten wachsen

 Betrachtet man die Wahl- und Umfrageergebnisse der vergangenen Monate, so zeigt sich einerseits ein dramatischer Niedergang von Schwarz-Gelb, von dem hauptsächlich die Grünen profitieren und andererseits ein System der kommunizierenden Röhren zwischen den Oppositionsparteien. Immer wenn eine der drei Parteien gewinnt,  zahlen die anderen drauf. Zu glauben, dass die LINKE im Karpfenteich der Grünen fischen könnte, halte ich für ebenso fraglich, wie eine erneute Erbschaft von der SPD – das ist mangels Masse ausgereizt. Die einzige Chance besteht in der Erschließung neuer Potenziale, was auch die Chance der Grünen war. Nur, dass wir nicht bei anderen Parteien gewinnen können, sondern bei der Partei der Nichtwähler, die ohnehin die größte ist. Und das ist keine thematische Frage, sondern eben eine sozialpsychologische: Wie können die entpolitisierten, resignierten und zersplitterten sozialen Milieus wieder handlungsfähig werden und ihre Interessen in der Gesellschaft geltend machen?  Es gibt dafür keine Patentrezepte, um dies  zu ändern, aber man kann auch aus der Vergangenheit lernen. Denn sozialemanzipatorische Bewegungen sind noch nie aus sich selbst heraus entstanden und auch nicht aus spontanen Aktionen oder von außen hereingetragener Agitation, sondern aus einem gemeinschaftlichen aber von außen unterstützten Lernprozess. Politisches Bewusstsein entwickelt sich nicht durch politische Agitation, sondern aus gemeinsamem Handeln, das häufig sehr niedrigschwellig beginnt. Zum Beispiel durch Angebote zur Selbsthilfe, Unterstützung in schwierigen Lebenslagen aber auch durch die Organisation alternativer Freizeitangebote. Wer  gemeinsam feiert oder neue kulturelle Formen kennenlernt, beginnt auch über andere Dinge zu reden – und erst dann schlägt die Stunde politischer Überzeugungsarbeit.  

Das darf natürlich nicht bei Stippvisiten prominenter Politikerinnen und Politikern in sozialen Brennpunkten stehenbleiben, sondern verlangt ein grundlegendes Überdenken unserer Parteiarbeit. Wir müssen mehr niedrigschwellige Politikformen entwickeln, an reale Bedürfnisse nach Gemeinsamkeit anknüpfen und immer daran denken, dass der Wurm nicht dem Angler, sondern dem Fisch schmecken muss. Und natürlich gibt es dafür bereits gute Beispiele, vor allem in der Kommunalpolitik und mehr im Osten als im Westen, aber sie erreichen erschreckend  weniger Menschen, als wir Wählerinnen und Wähler haben oder haben möchten. Letztlich betrifft dies alles aber nicht nur die Präsenz der LINKEN im öffentlichen Alltag, sondern auch im Alltag der Partei. Die Wertschätzung und materielle Unterstützung solcher Parteiarbeit darf hinter der Wertschätzung von parlamentarischen Aktivitäten ebenso wenig zurückstehen, wie hinter der Pflege unseres medialen   Erscheinungsbildes. Wobei auch noch  über die Einfallslosigkeit der meisten unserer Basisversammlungen zu reden wäre. Von Aufbruchstimmung ist hier in der Regel ebenso wenig  zu spüren, wie von einem inspirierenden Gemeinschaftsgefühl.

Harald Werner 3.Mai 2011

 

 


[1] Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?  Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 12/2011

[2] Vergl. „Wo wir stehen und wie es weitergehen kann“ Joachim Bischoff, Hasko Hüning, Bernhard Müller, Björn Radke und Bernhard Sander, in. Sozialismus 5/2011, S.18


[angelegt/ aktualisiert am  03.05.2011]