Harald Werner - Alles was links ist
 

1.Einleitung

Buchtitel haben zunächst den Zweck Leser zu gewinnen, wozu die Kombination von Psychologie und Sozialismus nicht ungeeignet scheint. Das mag auch Tucholsky so gesehen haben, als er einen Aufsatz mit der Überschrift „Psychologie und Marxismus“ veröffentlichte. (Tucholsky, 1927, S.7) Allerdings sucht man die Worte Psychologie und Marxismus im nachfolgenden Text dann vergeblich.[1]Das wird in diesem Buch anders sein, weil genau das drin ist, was drauf steht. Dennoch ist der Titel erklärungsbedürftig. Immerhin weckt er nicht nur Erwartungen, sondern wirft auch Fragen auf. Zum Beispiel, ob hier der Versuch einer Psychologisierung sozialistischer Theorie und Praxis unternommen wird, welche sich bekanntlich nicht aus dem geistigen, sondern aus dem praktisch-materiellen Leben ableitet. Oder, um bei den drei Quellen des Marxismus zu bleiben: Reichen Politische Ökonomie, Philosophie und wissenschaftliche Politik nicht aus, um sowohl die Kapitalismuskritik, als auch den Sozialismus zu begründen?  Doch selbst wenn der Begriff Psychologie äußerst selten bei Marx und Engels auftaucht und dann auch noch anders gebraucht wird, als ihn die heutigen psychologischen Theorien verstehen, spielt das Psychische bei den Klassikern des Marxismus eine außerordentlich große Rolle, ohne dass sie es so benennen. Das gilt natürlich für die von ihnen nur philosophisch beschriebenen Zusammenhänge von Sein und Bewusstsein oder die Rolle der menschlichen Tätigkeit für die Entwicklung des Denkens und für vieles andere mehr, was eigentlich Gegenstände der Psychologie sind. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass es zu Zeiten der Klassiker noch keine mit der heutigen Psychologie vergleichbare Theoriebildung gab, weil sich die Untersuchung der Psyche auf physiologische Experimente beschränkte, auch eine gewisse Rolle in der klinischen Medizin spielte, sich ansonsten aber in mystischen Reflektionen über das menschliche Seelenleben erschöpfte. Deshalb wird sich das nächste Kapitel ausführlich damit beschäftigen, welche Grundlagen Marx und Engels für die spätere Entwicklung einer materialistischen Psychologie legten und über welche Wege und Umwege sie sich entwickelte. Wobei es hier weniger um eine theoriegeschichtlich umfassende Darstellung geht, die den Zweck dieses Buches überfrachten würde, als um den Nachweis, dass dem Marxismus keine psychologische Theorie hinzugefügt werden musste, weil in ihm die Grundlagen einer materialistischen Psychologie bereits angelegt sind. 

 

Weshalb sozialistische Politik eine politische Psychologie braucht

Seit sich der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelte, will auch seine eigene Praxis so begründet werden. Dementsprechend findet die Forderung nach theoretischer Begründung von politischer Programmatik, Strategie und Taktik nirgendwo mehr Unterstützung als in linken Parteien. Dabei geht es fast immer um drei ineinander greifende und von Widersprüchen geprägte Analyseebenen. Erstens um den Entwicklungsstand der Produktivkräfte, zweitens um die konkreten Produktionsverhältnisse und drittens, wie sich dies beides auf den gesellschaftlichen Überbau, also auf die juristischen, politischen und ideologischen Verhältnisse der jeweils konkreten Gesellschaft auswirkt. Das Psychische spielt erst auf der dritten Analyseebene eine gewisse Rolle, wird also zum sogenannten Überbau gerechnet. Wozu dann auch der so genannte „subjektive Faktor gerechnet“ gehört, mit dem unter anderem die gesellschaftlichen Bewusstseinsformen, die Kultur, die Organisiertheit der Klassen und ihre Hegemoniefähigkeit gemeint ist. (?agin 1974, S.29) Beim subjektiven Faktor handelt es sich also um ideelle Momente der gesellschaftlichen Prozesse, die in der Regel Gegenstand der Soziologie und der Politikwissenschaft, nicht aber der Individualpsychologie sind. Für die marxistische Orthodoxie, oder wie man besser sagen sollte, für den Vulgärmarxismus spielte der subjektive Faktor fast nie eine Rolle, weil er nicht als ein die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibendes Moment angesehen wurde, sondern als bloße Widerspiegelung materieller Prozesse. Allerdings spielte er bei Lenin eine ganz besondere Rolle, der den subjektiven Faktor als eine objektive Bedingung für eine „vollständige Befreiung der Arbeiterklasse“ einstufte. (Lenin Bd.9, S.14)

Der Vulgärmarxismus blendete allerdings die Wirkungskraft des Subjektiven in der Geschichte über Jahrzehnte aus und verbreitete einen materialistischen Geschichtsdeterminismus, der nicht nur zu schweren politischen Fehlern führte, sondern auch die Ausstrahlungskraft des marxistischen Denkens auf die sozialwissenschaftlichen Diskurse einschränkte. Erst in den 1970er Jahren wurde der Begriff des subjektiven Faktors zusammen  mit der Gramsci-Debatte neu entdeckt und der mechanistische Zusammenhang von Sein und Bewusstsein zumindest in Teilen der Linken überwunden. Doch die Wiederentdeckung des subjektiven Faktors, wie wichtig er auch für die marxistische Debatte war, verharrte immer noch auf der Ebene der Gesellschaftstheorie. Er wurde als eine „objektive Bedingung“ der gesellschaftlichen Entwicklung anerkannt, ohne sich der spannenden Frage zuzuwenden, in welchem Zusammenhang die subjektive Seite der Geschichte mit der individuellen psychischen Tätigkeit steht. Immer noch konnte die Illusion entstehen, dass die individuellen Bedürfnisse, Motivationen und Emotionen zwar den materiellen Lebensprozess beeinflussten, selbst aber nur eine Widerspiegelung der materiellen Praxis waren.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Briefwechsel zwischen Engels und Joseph Bloch wo Engels schreibt: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. (…) Wenn nun jemand das bis dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzige bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.“ (MEW 37, S. 463) Was aber geschieht, bevor sich in „letzter Instanz“ die ökonomischen Umstände durchsetzen? Engels schreibt dazu an Bloch: „dass das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte (…) Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“ Doch dieses scheinbare Chaos ist die Realität sozialistischer Politik, welches das praktische Handeln in der Gesellschaft, wie auch in den linken Organisationen beherrscht. So wichtig auch strategische und taktische Analysen sein mögen, sie helfen nicht im Geringsten all die Leidenschaften, den Widersinn und die zermürbenden Konflikte der alltäglichen Politik zu beherrschen.

Die erste Aufgabe einer politischen Psychologie des Sozialismus müsste demnach das Ziel verfolgen, einerseits die „relative“ Eigenständigkeit der psychischen Tätigkeit gegenüber ihrer materiellen Bedingtheit zu begründen, andererseits aber auch zu beschreiben, inwieweit die psychische Tätigkeit dennoch von der praktischen abhängig ist. Es geht also darum die bestimmende Rolle des Seins gegenüber dem Bewusstsein im wahrsten Sinne dieses Begriffs dialektisch zu sehen, nämlich als einen in sich widersprüchlichen Zusammenhang. Solange man dies nicht erklären kann, droht man zum Opfer von zwei zwar entgegengesetzten aber gemeinsam falschen Richtungen der Psychologie zu werden. Entweder der experimentellen und  angeblich naturwissenschaftlichen Richtung, die das psychische Leben als einen bloßen Reflex auf seine Umwelt betrachtet oder der eher spekulativen Richtung, welche den Menschen in das Gefängnis seiner inneren Triebe eingesperrt sieht. Die zweite Aufgabe besteht in der Auseinandersetzung mit dem in der Gesellschaft vorherrschenden Menschenbild. Was übrigens weniger eine akademisch philosophische, als eine höchst politische Angelegenheit ist. So begegnen Sozialistinnen und Sozialisten nicht selten der Alltagsauffassung, dass der Sozialismus zwar eine schöne, aber wegen des menschlichen Charakters nicht realisierbare Alternative ist. Dabei kann sich der Alltagsverstand nicht nur auf die eigene persönliche Erfahrung stützen, sondern weiß sich in guter Gesellschaft mit einem großen Teil der mit dieser Frage befassten Wissenschaften. Allen voran die bereits erwähnten Verhaltensforscher und in jüngerer Zeit die so genannte „moderne Hirnforschung“, die sich weitgehend auf physiologischen Prozesse des Gehirns beschränkt oder auf die Entschlüsselung des genetischen Erbgutes. Das Fatale daran ist, dass all diese Schulen scheinbar materialistisch argumentieren, die einen mit der sozialen Umwelt, die anderen mit dem Genpotenzial. 

Auf eine vielfache Weise haben sich relevante Teile der Humanwissenschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts darum bemüht, den wissenschaftlichen Beweis entweder für die Unveränderbarkeit des Menschen zu liefern oder ihm grundlegende Wesensmerkmale anzudichten, die auf eine erstaunliche Weise ebenso den Raubtierkapitalismus, wie die Unausweichlichkeit des Krieges zu begründen scheinen. Sei es durch eine reduzierte Interpretation Darwins, nach der sich im Kampf ums Dasein naturgesetzlich nur die Stärksten durchsetzen oder durch einen Bezug auf Freud, mit seiner Behauptung eines dem Menschen eingepflanzten Aggressions- und Todestriebs. Nicht zu vergessen relevante Teile der Genforscher, die in letzter Konsequenz den Menschen als ein hilfloses Opfer seines Genpotenzials betrachten. Die sozialistische Perspektive muss sich daher nicht nur gegen die immer wieder behauptete Alternativlosigkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft durchsetzen, sondern auch gegen all jene Humanwissenschaften, die den Raubtierkapitalismus und die Schrecken des Krieges durch biologische und psychologische Unveränderbarkeiten zu begründen suchen. Nicht, dass sie dabei die Bedeutung sozialer Umwelteinflüsse völlig ignorieren. Aber sie unternehmen den vom wissenschaftlichen Standpunkt aus abenteuerlichen Versuch, das Verhältnis zwischen genetischer Determination und Umwelteinflüssen mit Prozentzahlen auszudrücken. Etwa mit der Aussage, dass der Mensch zu 70 Prozent durch sein genetisches Erbe und zu 30 Prozent durch seine soziale Umwelt geprägt werde. Das aber ist ebenso widersinnig, als würde ein Musikwissenschaftler behaupten, Beethovens 9. Sinfonie sei zu 70 Prozent durch die Melodik und zu 30 Prozent durch ihre Rhythmik bestimmt. In Wirklichkeit lässt sich das eine nicht vom anderen trennen, weil die genannten Faktoren nicht isoliert voneinander existieren.  

Welche politische Psychologie nicht gemeint ist

Schließlich ist aber nicht nur erklärungsbedürftig, was der Sozialismus mit Politischer Psychologie zu tun hat, sondern auch die Praxis der Politischen Psychologie selbst ist zu hinterfragen. Es gibt kaum eine psychologische Schule, die sich nicht mit der Politik beschäftigt hat. Mal mehr, mal weniger, und auch nicht immer mit dem Aushängeschild „Politische Psychologie“. So etwa die Massenpsychologie von Le Bon, dessen größte Leistung am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht in der Weiterentwicklung der Psychologie bestand, sondern dass er der Angst seiner Klasse vor den revolutionären Massenbewegungen eine scheinbar wissenschaftliche Grundlage verschaffte. Überhaupt war die Angst vor unkontrollierbaren politischen Prozessen, egal ob sie in der sozialistischen Revolution gesehen wurden oder Im Faschismus, im 20. Jahrhundert das zentrale Thema psychologisch-politischer Studien. Und das nicht nur im Sinne der Massenpsychologie oder der pessimistischen Grundausrichtung der von Freud begründeten Psychoanalyse, sondern auch in den Studien der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, deren bahnbrechenden Analysen am Vorabend der faschistischen Machtergreifung in Deutschland als der Beginn einer wissenschaftlich begründeten politischen Psychologie eingestuft werden müssen.

Doch in den vergangenen Jahrzehnten bildete sich, neben zahlreichen anderen Bindestrich-Psychologien, eine politische Psychologie heraus, deren dominanter Gegenstand vor allem die praktische Politik und deren Beratung ist. Wie die Wirtschafts-, Arbeits- oder Werbepsychologie Theorien und Methoden zur Beherrschung ökonomischer Praxisbereiche entwickelt, geht es der dominanten Politischen Psychologie um die Optimierung politischen Handelns, der Dynamik politischer Krisen und der Moderation von Konflikten. So heißt es in einem Themenheft der Bundeszentrale für politische Bildung: „Politische Psychologie kann solche Dynamiken aufzeigen, häufig Handlungskompetenz liefern, gelegentlich aber auch nur einen Beitrag zur Klärung unvermeidlicher Konflikte leisten.“ (Hilgers, Micha, 2007, S.6) Wer denkt da nicht an Stuttgart 21, das Desaster mit der Agenda 2010 oder andere Vorkommnisse, deren Dynamiken von der Politik unterschätzt wurden. Viele Lehrstühle und Psychologen beschäftigen sich mit politischen Motiven und den Bedürfnislagen des Wahlvolks, um taktische Handlungskonzepte zu entwickeln oder die Wirkung von Wahlwerbung zu untersuchen. Nicht ohne Ironie lässt sich jedoch sagen, dass all diese Bemühungen der herrschenden Politik weder geholfen haben, das Wahlvolk zu verstehen und die zunehmende Politikverdrossenheit zu überwinden, noch politische Krisen in den Griff zu bekommen. Zum einen natürlich weil schlechte Politik nicht mit guter psychologischer Beratung zu heilen ist, wahrscheinlich aber auch, weil die herrschende politische Psychologie nicht in der Lage ist, menschliches Handeln zu erklären, sondern nur Konzepte zur Beeinflussung dieses Handelns anzubieten hat. Um diese zuletzt genannte Möglichkeit zu verstehen, bedarf es einer kurzen Abschweifung in die Wirrnis der verschiedenen psychologischen Schulen.

In ganz groben Zügen lassen sich die psychologischen Schulen durch zwei Hauptrichtungen unterscheiden. Auf der einen Seite die „experimentell-statistische“ und auf der anderen die „verstehende Psychologie“. Die experimentell-statistische Psychologie will den in der Naturwissenschaft geltenden Regeln gerecht werden und versucht auf der Grundlage experimentell beobachteter Zusammenhänge zwischen äußeren Reizen und psychischen Reaktionen zu Gesetzesaussagen zu kommen, wie sie in der naturwissenschaftlichen Forschung üblich sind. Das beste Beispiel dafür ist die Intelligenzforschung. Ihr Ziel ist das Auffinden von Indikatoren, die in ihrer Kombination einen Koeffizienten ergeben, dessen Höhe etwas über die Intelligenz der Versuchspersonen aussagt. Vereinfacht gesagt handelt es sich um die gleiche Methode, die die Medizin anwendet, um eine Diagnose über den Gesundheitszustand eines Individuums stellen zu können. Und so wie sie dabei von Variablen wie Körpertemperatur, Blutdruck, Herzfrequenz oder Blutspiegel ausgeht, glaubt die sogenannte „Variablenpsychologie“, an Hand von vorgegebenen Fragen oder Tests, etwas über den psychischen Zustand eines Individuums aussagen zu können. Doch die angebliche Exaktheit solcher Ergebnisse blamiert sich immer wieder nirgendwo besser als in der Intelligenzforschung, wo sich der ermittelte IQ häufig im Gegensatz zu den intellektuellen Leistungen der Probanden in der Praxis befindet. Ganz anders die „verstehende Psychologie“, die sich vor allem auf ausführliche biografische Einzelstudien oder eine, der medizinischen Anamnese vergleichbare, Untersuchung der psychischen Entwicklung des Individuums stützt. Es geht gewissermaßen um psychische Krankheitsgeschichten, die vor dem Hintergrund der Lebenspraxis der Betroffenen erstellt werden. Diesen roten Faden der Persönlichkeitsentwicklung zu finden, ist typisch für die verschiedenen Formen der Psychoanalyse, die damit aber zu keinen, den naturwissenschaftlichen Methoden entsprechenden, Ergebnissen kommt. Ihre Ergebnisse sind nicht statistisch verallgemeinerbar,  sondern bestehen aus idealtypischen Modellen individueller psychischer Entwicklungen. Dieses Dilemma der Psychologie scheint kaum überwindbar. Die einen wenden Methoden an, die zwar statistisch plausibel sind, dabei aber nicht die Vielfalt der Individuen erfassen. Die anderen kommen zu idealtypischen Modellen, die zwar die Vielfalt der psychischen Prozesse und ihren Zusammenhang mit der Lebenspraxis der Individuen abbilden, aber nicht statistisch-empirisch verallgemeinerbar sind. Immerhin haben Letztere den Vorzug, dass sie in der therapeutischen oder pädagogischen Praxis, also im Umgang mit konkreten Menschen, relativ erfolgreich sind. In gewissen Grenzen gilt das auch für die Aussagefähigkeit der experimentell-statistischen Psychologie, wenn es um die Diagnose individueller psychischer Störungen geht. Die Methode scheitert allerdings und muss auch scheitern, wenn es, wie bei der politischen Psychologie, um die Entschlüsselung der psychischen Prozesse einer ganzen Bevölkerung geht.

Was aber nun heißt dies für eine politische Psychologie des Sozialismus? Zunächst einmal, dass erhebliche Zweifel an der Aussagefähigkeit von Meinungsumfragen angebracht sind. Die Zustimmung oder Ablehnung bestimmter Standardmeinungen sagt so gut wie nichts über die psychischen Ursachen der Zustimmung oder Ablehnung der in der Regel vorgegeben Antwortmöglichkeiten aus. Mithin auch nichts darüber, wie sich die Befragten in bestimmten Situationen verhalten werden. Eine Ausnahme macht dabei die viel beachtete Sonntagsfrage, wo es ausschließlich um eine konkrete Entscheidung zwischen wenigen Wahloptionen geht. Hier mag die experimentell-statistische politische Psychologie durchaus erfolgreich sein, doch bei der Untersuchung der Widerspiegelung des politischen Geschehens im individuellen politischen Denken muss sie zwangsläufig scheitern. Aber die von mir gemeinte politische Psychologie des Sozialismus lässt sich auch nicht umstandslos mit dem Begriff der verstehenden Psychologie beschreiben. Vor allem deshalb nicht, weil eine materialistische Psychologie nicht von dem ausgehen kann, „was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen“ wie es bei Marx und Engels in der Deutschen Ideologie heißt, sondern „von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“ werden müssen (MEW 3, S.26) Und in dem Sinne kann eine materialistische politische Psychologie durchaus als verstehende Psychologie bezeichnet werden.

 

Für wen dieses Buch geschrieben wurde

Die Idee zu diesem Buch entstand genau in jener Praxis, für die es gedacht ist. Es soll helfen die Menschen besser zu verstehen, die sozialistische Politik gewinnen will und dazu dienen, besser mit den frustrierenden Erfahrungen oder unverständlichen Konflikten umzugehen, die für linke Politik aus vielerlei Gründen unvermeidlich sind. Einmal weil es stets langsamer vorangeht, als man es sich am Beginn eines solchen Engagements vorstellt und zum anderen durch die Unterschiedlichkeit der beteiligten Individuen. Einen ganz aktuellen Anstoß verdanke ich der politischen Bildungsarbeit, in der sich in einem Grundlagenkurs der LINKEN herausstellte, wie groß das Interesse an Themen ist, die sich auf die Entwicklung des Bewusstseins und das Zustandekommen menschlicher Bedürfnisse beziehen. Ein weiterer Anlass ist meine eigene, langjährige politische Praxis in linken Parteien und Gewerkschaften. Als Subjektwissenschaftler befand ich mich dabei gewissermaßen immer in der Rolle eines teilnehmenden Beobachters, der die ablaufenden Prozesse zwar professionell registrieren, aber so lange nicht professionell lösen kann, wie er ein Teil davon ist. Heute, aus einer gewissen Distanz, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es der politischen Praxis weniger an externer, professioneller Beratung, als an interner, sachkundiger Selbstreflektion mangelt. Die allgegenwärtige und in einer demokratischen Partei auch kaum wegzudenkende, organisatorische Handwerkelei, scheint mir ein wesentlich geringeres Problem zu sein, als die weit verbreitete Blindheit über die innerhalb einer Partei, aber auch in ihrem Wirken nach außen, stattfindenden psychischen Prozesse. Deshalb will dieses Buch einerseits den Zusammenhang von Psychologie und Marxismus verständlich machen, vor allem aber auch das Verständnis für die psychische Seite der politischen Praxis vertiefen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Hilfe zur Selbsthilfe und keinesfalls um einen Ratgeber. Insofern ist es auch kein Buch „über“ die politische Psychologie des Sozialismus, sondern ein Beitrag „zur“ politischen Psychologie. Wer mehr darüber lesen will, sollte auf die zitierte Literatur achten. 

Doch meine Orientierung auf die politische Praxis bewahrt die Leserinnen und Leser nicht vor der Anstrengung, sich selbst in die wichtigsten Grundzüge der historisch-materialistischen Psychologie einzuarbeiten. Als erstes in den Zusammenhang von Marxismus und Psychologie, welche Grundlagen die Klassiker für eine historisch-materialistische Psychologie legten und welche Richtungen sich draus entwickelten. Es geht aber auch um spezifische, dem Marxismus nahestehende Theorien, wie etwa den Freudo-Marxismus, schließlich um das Verhältnis von Marxismus und Psychologie in der DDR, um die Kulturhistorische Schule in der Sowjetunion und die Kritische Psychologie im Westen, auf die ich mich weitgehend beziehe. Gleichzeitig hat jedoch die moderne Hirnforschung in jüngster Zeit zu Ergebnissen geführt, die auf faszinierende Weise nicht nur die materialistische, von der menschlichen Tätigkeit ausgehende Analyse des Marxismus bestätigte, sondern auch neue Zusammenhänge zwischen der praktischen und der psychischen Tätigkeit des Menschen aufdeckte. Das gilt freilich nicht für alle Richtungen der Neurobiologie, denn, wie bereits erwähnt, wurden hier auch, Arm in Arm mit der Genforschung biologistische und sozialdarwinistische Sichten auf das Wesen des Menschen verbreitet, die ihn als ein seinen Genen und Hirnmechanismen ausgeliefertes Wesen betrachten. Andere Forscher stellten dagegen fest, dass „die Übereinstimmungen zwischen Neurobiologie und Sozialforschung (…) geradezu frappierend“ sind und konnten durch Experimente im Kernspintomographen nachweisen, wie stark die psychische Tätigkeit von der aktuellen Tätigkeit, wie von der biografischen Entwicklung des Individuums bestimmt wird. (Bauer 2013, S.65)      

Anschließend daran versuche ich grundlegenden Kategorien wie zum Beispiel die menschlichen Bedürfnisse, das Motivationsproblem, die Beziehung des Sprechens zum Denken und die Funktion von Aggressionen und Ängsten zu beschreiben. Letzteres hat während des Schreibens mit dem Terror des IS und der Pegida-Bewegung eine besondere Relevanz erhalten. Die Angst ist zu einem den Buchmarkt und die Feuilletonseiten beherrschenden Thema geworden, weshalb ich das Thema zum „Angstpotenzial des Neoliberalismus“ aufgenommen habe. Einen noch engeren Bezug zur Praxis gibt es dann im Teil „Subjekt und Organisation“ und dem Kapitel zur Partei. im Abschluss geht es um die „Kraft des utopischen Denkens“, was zunächst der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“  zu widersprechen scheint. Doch psychologisch gesehen ist das utopische Denken nicht nur eine unverzichtbare, wenn auch nichtwissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit, es ist auch ein kräftiger Resonanzboden für die Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Realität.

Dies alles geschieht nicht ohne Praxisbeispiele, verlangt aber trotzdem von den Leserinnen und Lesern, dass sie im Sinne von Marx vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigen (MEW 13, S.631) Damit ist gemeint, dass es sich bei den eingeführten Begriffen und beschriebenen Gesetzmäßigkeiten um gedankliche Werkzeuge handelt, die sich erst richtig nutzen lassen, wenn sie zum „Begreifen“ der eigenen Praxis angewendet werden.

 

 


[1] Im Artikel selbst geht es allein um die Lebensuntüchtigkeit der „radikalen Literaten“ wovon er übrigens Lenin ausdrücklich ausnimmt und ihm bescheinigt,  trotz seiner 28 geschriebenen Bände eine außerordentliche Lebenstüchtigkeit bewiesen zu haben.


[angelegt/ aktualisiert am  05.08.2015]

 
 
 

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